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Ein Leben im Kinderheim Machern



Teil 3: Begabungen und persönliche Entwicklung wurde gefördert


"Positive Energie" – oder wie das Treiben einzelner durch die Erzieherinnen behutsam in die richtige Richtung gelenkt wurde.

Das Gelände des Kinderheimes war gigantisch - zumindest aus damaliger Sicht mit den Augen eines Kindes. Die ehemalige "Villa Sebeck", deren Namensgeber Richard Sebeck eine Forstwirtschaft und eine kleine Landwirtschaft betrieb, war mit Land gut bestückt. Auch nach der Verstaatlichung des Anwesens behielt das Kinderheim einen kleinen Mini-Wald, den vom Buchenweg kommende Besucher durchstreiften. Es war für uns Kinder wunderbar, in diesem Wald zu spielen, ein Wald unmittelbar vor der Haus. Aber auch für ernsthafte Aufgaben war der Wald gut. Ich rodete einfach ein Stück Wald, grub die Fläche um und umzäunte das kleine Beet. Es war unheimlich spannend zu erleben wie der Salat wuchs. Jeden Tag ging ich zu meinem kleinen Garten, mitten im Wald und beobachtete den Kopfsalat beim Wachsen.

Mein Treiben war nicht unbedingt im Sinne der Heimleitung. Denn wenn das jeder machen würde, gäbe es ja bald keinen Wald mehr! Aber da waren dann die gewissen pädagogisch gedachten "Vergünstigungen". Es war nicht okay, einfach den Wald umzugraben. Da ich aber etwas Produktives tat, mich dafür begeisterte und so auch lernte Verantwortung für meine Arbeit zu übernehmen, wurde es toleriert und ich durfte offiziell weiter ein Gärtner sein, wenn ich es nicht übertreibe.

Ich muß schon sagen, so eine Erziehung wäre auch heute oft von Nöten. Nicht mit überzogener Strenge, Verboten und Bestrafungen regieren, sondern mit Belohnung und Motivation.

In der fünften Klasse kam ich auf die verrückte Idee einen Ballon zu bauen. Wollte fliegen. Was da wohl in meinem Kopf vor sich ging? Selbst wenn ich das Material als Kind gehabt hätte und das Teil wirklich fliegen könnte – ich hätte gegen zig Verordnungen und Vorschriften verstoßen. Weil ich nicht wusste, wie ich an Helium heran kam, wollte ich Wasserstoff nehmen. Ich besorgte mir sogar ein Chemiebuch von einem der älteren und löcherte die Lehrer in meiner Schule, wie ich Wasserstoff erzeugen kann. Das Thema war in meiner Klasse noch nicht auf dem Lehrplan. Aber Wasserstoff? Das hätte böse ausgehen können.

Zum Glück blieb es nicht bei so einem allgemeingefährlichen Ballon. Als Freunde mitmachen wollten, wurde ein Flugzeug konstruiert. Meine Erzieherin meinte, wenn wir wirklich abheben, zieht sie ihren Hut vor mir und das war erst recht ein Ansporn. Ich sah mich schon über die Villa fliegen und den Hut der Erzieherin - die eigentlich gar keinen hatte - in ihrer Hand. Ich lernte alles Mögliche um ein Flugzeug bauen zu können. In der Schule hatten wir noch nicht den richtigen Stoff. Also holte ich mir Schulbücher von größeren Schülern. Ich mußte lernen, wie ich den Auftrieb von Tragflächen berechne. Ich war der Chefkonstrukteur und stolz darauf. Klar, das Projekt war ja auch mein Baby, wer hätte sonst ein Flugzeug in der sechsten Klasse konstruieren können? Mein Kumpel Jens war als Organisator vorgesehen, Abteilung "Materialbeschaffung", und der dicke Frank war einfach nur dabei, so wie immer irgendwo ein Dritter dabei ist, der einfach nur dabei ist ohne eine Funktion zu haben. Er sollte das ganze am Ende testen. Testpilot Frank wog soviel wie Jens und ich zusammen. Wir haben schon heimlich bei dem Gedanken gelacht, wie er versucht vom Boden zu kommen, der Moped-Motor sein Gewicht aber nicht in die Lüfte bringt.

Naja, das Projekt verlief sich irgendwann im Sande. Jens wurde adoptiert und verließ das Kinderheim. Und bei mir zeichnete sich ab, daß auch ich bald wieder nach Hause komme.


Autor: nokiland


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Teil 1: Ein Leben im Kinderheim Machern
Teil 2: Erziehung statt Um-Erziehung
Teil 3: Begabungen und persönliche Entwicklung wurde gefördert
Teil 4: Schulunterricht in einem echten Schloss
Teil 5: Frust und kleine Freuden in Machern
Teil 6: Integration der Heimkinder in den Schulalltag
Teil 7: Die Kinderheime in der DDR waren keine Straflager für Schüler
Teil 8: Das Kinderheim in Machern nach der Wende
Teil 9: Das ganz persönliche Wort zum Sonntag