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Die Arbeiter zeigen ihre Kraft


In den großen Kohlerevieren der Sowjet-Union streikten die Arbeiter - gegen Ausbeutung und Mangelwirtschaft, Umweltschäden und Funktionärsprivilegien. Perestroika - Revolution von unten oder Gefahr für Gorbatschow? Um zunächst einmal die Kumpel wieder in die Zechen zu bringen, gab die Regierung den Forderungen nach. Im Partei-ZK wächst der Widerstand der Konservativen.

Der Kommunist Michail Gorbatschow hatte vier Jahre lang dafür gefochten, die Ausgebeuteten der UdSSR mit ihren Herren zu versöhnen - durch Reformen. Doch der Hang seiner Genossen zur Macht war stärker als die Furcht der Funktionäre, das Volk könne sich vor ihren Büros zusammenrotten und Rechenschaft begehren.

Jetzt war es soweit. Jene Klasse, die laut Ideologie in Rußland bereits 72 Jahre lang herrscht und laut Verfassung "führt", forderte ihre Rechte ein: das Proletariat der Sowjet-Union.

Die Avantgarde kam aus den Schächten und Stollen und trat in den Streik - im Osten, im Südwesten und im hohen Norden der UdSSR. Die Bergarbeiter verlangten mehr Lebensmittel und mehr Lohn, Eigenverwaltung ihrer Betriebe, Entmachtung der Funktionäre.

Sie mahnten die Versprechen an, die ihnen die Kommunisten zu einer Zeit gegeben hatten, als die Ruheständler von heute eben geboren waren - so lange gab es in jenem Land, das sich als "Diktatur des Proletariats" anpreist, keine selbständige Arbeiterbewegung, obwohl doch das Proletariat laut Karl Marx sich nur selbst befreien kann.

So lange hatten die Arbeiter der UdSSR geschwiegen, kraft Diktatur der Staatsgewalt. Doch dann: "Schrecklich", hörte der Moskauer ARD-Korrespondent Gerd Ruge, "gerade haben wir unsere Datschen eingerichtet, und nun kommt die Revolution."

"Es schien doch alles so normal", klagte auch der Erste Parteisekretär der sibirischen Bergarbeiterstadt Kisseljow, "und nun plötzlich dieser Ausbruch - wie eine Naturkatastrophe." Doch alle Gewalthaber waren gewarnt.

Der Aufstand der Arbeiter brach los, als sich die Moskauer Führung dem schlimmsten aller Nationalitätenkonflikte gegenübersah, welche die Peripherie des Reiches seit einem Jahr erschüttern: An der Schwarzmeerküste wüten moslemische Abchasen und christliche Georgier gegeneinander, morden, stürmen Polizeistationen wie Parteibüros und erbeuten Waffen.

Die Meuterei der Arbeiter brach in einer Gegend des großen Reiches aus, über die Jegor Ligatschow - Gorbatschows zurückgedrängter Gegenspieler - voriges Jahr scherzte: "Noch weiter fort als bis nach Sibirien wird man uns wohl kaum schicken."

Die Partei war gewarnt, die sibirischen Gebietssekretäre meldeten dem ZK bereits im April drohende Unruhen; im Industrierevier Kusnezker Becken ("Kusbass") hatte es elf kleinere Streiks gegeben.

Die Regierung wußte sogar schon seit vorigem Sommer Bescheid: Auf der Parteikonferenz im Juni sprach als erster Redner nach Chef Gorbatschow der Gebietssekretär von Kemerowo, Wadim Bakatin, inzwischen Innenminister der UdSSR. Er beschwor die Gefahrenpunkte, im Namen der "überwiegenden Mehrheit der Belegschaften im Kusbass".

Unverzüglich schrieb ein selbstbewußter Arbeiter aus Kemerowo an eine Moskauer Zeitung: "Bakatins Rede hat mich stutzig gemacht. Ich habe niemanden beauftragt, in meinem Namen irgendwelche Erklärungen abzugeben."

Auch die Volksvertretung der Sowjet-Union war gewarnt: "Es darf doch nicht sein, daß die wunderschönen Ideen der Perestroika nicht siegen werden", beschwor der Volksdeputierte Wladimir Gwosdew die 2250 Abgeordneten des Volkskongresses am 7. Juni im Kreml.

Gwosdew ist Vorarbeiter auf der größten Zeche der Sowjet-Union, "Raspadskaja" ("Zerfall"), im westsibirischen Meschduretschensk, das gleichfalls im Kusnezker Becken liegt.

Dort werden jedes Jahr 140 Millionen Tonnen Kohle gefördert, dort qualmen Stahlwerke, Chemie- und Maschinenfabriken, Betriebe für Kunstdünger und Zement: ein Industrierevier, dessen Gewicht den Deutschen entgangen war, als sie 1942 nach Eroberung des Donez-Beckens ("Donbass") Rußlands Wirtschaftskraft gebrochen wähnten.

Der Volksdeputierte Gwosdew, Mitglied der KPdSU, meldete nun eine neue Gefahr, die sich von innen zusammenbraute. Seine Wähler setzten ihn dermaßen unter Druck, daß er "kaum Luft zum Atmen" habe, "die Menschen sind des Wartens müde. Der Vorrang einer Entwicklung des sozialen Bereichs muß gesetzlich verankert werden - sonst kann man nicht weiterleben".

Das Lebensniveau der Bergleute sinke ständig, die einfachsten Dinge fehlten - warme Kleidung und Schuhe. Gwosdew weiter: "In den Siedlungen der Bergleute ist sogar das Wasser rationiert, es reicht nicht für die Versorgung der oberen Stockwerke. Viele Sorten Lebensmittel fehlen ganz. So lebt aber nicht nur das Kusbass, so lebt unsere ganze reiche Region Sibirien. Die Ministerien spucken auf die sozialen Nöte der Sibirjaken."

Die Schlußfolgerung des Vorarbeiters (der sich wegen der Militarisierung des sowjetischen Arbeitslebens "Brigadier" nennt): "Die Diagnose ist gestellt, das Skalpell muß jetzt angesetzt und mit der Operation begonnen werden. Wir dürfen keine Zeit verlieren, wenn wir überleben wollen."

Sechs Wochen warteten Gwosdews Arbeitskollegen in Meschduretschensk. Vorletzten Dienstag traten 12 000 Kumpel in Streik, eine Woche später waren es zehnmal soviel. Auch im Donbass legten Hunderttausende die Arbeit nieder - sogar in der Stachanow-Grube, benannt nach jenem Musterarbeiter der Stalin-Zeit, dessen absurde Normübererfüllung (102 statt sieben Tonnen in einer Schicht) seinen Kollegen forthin als Ackordpeitsche vorgehalten wurde.

Auch andere Branchen befanden sich im Ausstand, der Streik sprang auf die großen Bergbaugebiete der Sowjet-Union über: von Workuta am Polarkreis, das Leningrad mit Kohle versorgt, bis Karaganda in Kasachstan - Schreckensnamen aus der Gulag-Zeit, wo heute freie Arbeiter zu jämmerlichen Löhnen rackern.

In Rostow am Don, in Petschora, im ukrainischen Hüttenzentrum Dnjepropetrowsk und bei Lemberg kamen die Fördertürme zum Stillstand. Ein Streikführer zu einem Direktor im Kusbass, der die Aufnahme der Arbeit angeordnet hatte: "Stellen Sie die Arbeit sofort ein, sonst wird auf dem Platz die ganze Tribüne mit Flugblättern beklebt sein, wo wir Sie als Streikbrecher anprangern."

In elf Kusbass-Städten und am Donnerstag in Dnjepropetrowsk, das einmal die Hochburg Leonid Breschnews gewesen war, demonstrierten die Einwohner Tag und Nacht. Ihre populärste Losung: "Fleisch für alle."

In Wolgograd (Stalingrad) verweigerte das Stahlwerk "Roter Oktober" die Arbeit, weil die Lohnzahlung vier Tage lang überfällig war. Im sibirischen Prokopjewsk schloß ein Arbeiter-Selbstschutz die Wodka-Läden und stellte zum Alkoholtest Posten an den Autostraßen auf. Unruhestifter wurden festgenommen und der Polizei übergeben, die Kriminalität in Westsibirien sank.

Trupps durchsuchten auch die Wohnungen von Funktionären. Politische Oppositionsgruppen, "Helsinki-Komitee" und Demokratische Union, die für ein Mehrparteiensystem wirbt, verteilten Flugblätter.

Einen proletarischen Massenprotest solcher Dimension hatte es in Rußland zum letztenmal gegeben, als die Arbeitsveteranen von heute noch nicht zur Schule gingen: 1921 unter Lenin, der mit Militärterror, aber auch einer liberalen Wirtschaftsreform ("Neue ökonomische Politik") reagierte. Diesmal zeigte sich die Führung unentschlossen.

"Trud", Organ der Berufsorganisationen, erklärte die Situation für "nicht mehr steuerbar". Die gewählten Streickomitees riefen nach Präsident Gorbatschow als Verhandlungspartner, doch der hielt sich bedeckt; kurz zuvor hatte er nach Leningrad reisen müssen, um einen Konflikt im Schwermaschinen-Kombinat (Gorbatschow: "Zustände wie zu Urgroßvaters Zeiten") zu schlichten. Er setzte den Leningrader Parteichef ab.

Moskau schickte den Streikenden Telegramme und entsandte den Kohle-Minister Michail Schtschadow, 62, der gerade vom Obersten Sowjet mit nur einer Gegenstimme in seinem Amt bestätigt worden war; er strich den Streikenden sofort den Lohn. Und es kam das Politbüro-Mitglied Nikolai Sljunkow, 60. Der hatte sich durch erfolgreiches Verschweigen der verheerenden Tschernobyl-Folgen in Belorußland, seinem früheren Amtsbereich, ausgezeichnet.

Daß die Parteifürsten herbeizitiert wurden, war für die Arbeiter das erste Erfolgserlebnis. Die Herren reisten von Zeche zu Zeche, verhandelten mit Funktionären und Streikführern, riefen zwischendurch immer wieder in Moskau an.

Dann wagten sie sich in das Aufstandszentrum Prokopjewsk, wo, welteinzig, der Vize-Direktor des Bergbaukonzerns zum Vorsitzenden des Streickomitees gewählt worden war: der Volksdeputierte Teimuras Awaliani.

Die Moskauer Führer traten mutig vor das streikende Volk, das sich auf dem Lenin-Platz niedergelassen hatte. Auf der zuvor von Arbeitern eroberten Granittribüne, von der aus die Herrschenden sonst die Huldigungen ihrer Untertanen entgegennehmen, verlasen die Kreml-Emissäre ihre Reden, hoch über ihren Zuhörern, den monumentalen Schutzheiligen Lenin hinter sich - als ob sich rein gar nichts geändert hätte.

Sie hatten nur das eine im Sinn: die Kumpel wieder in die Schächte zu bringen. Der Mangel an Kohle könne zur "Katastrophe" führen, befand "Tass". Gorbatschow selbst rügte den Ausfall von einer Million Tonnen Kohle als irreparabel. Preis: 13,59 Millionen Rubel. Die Parteipresse verzehnfachte die Verlustsumme - dabei lagern im Kusbass seit langem exakt eine Million Kohle-Tonnen, die nicht abgerufen wurden.

Die Moskauer machten Konzessionen, die sie nichts kosten, versprachen Lohnzulagen, längeren Urlaub - zu bezahlen aus dem Sozialfonds der Bergwerke, also von den Bergleuten selbst.

Für die Gebietshauptstadt Kemerowo wurden ein Krankenhaus und ein Heizwerk zugesagt, auch sechs Millionen Mark für den Straßenbau. Noch in diesem Sommer soll es für die knapp eine Million Kusbass-Arbeiter und ihre Familien eine Lebensmittel-Sonderzuteilung geben - etwa fünf Pfund Zucker pro Kopf, je anderthalb Pfund Waschpulver und Seife, eine Dose Kondensmilch, ein halbes Pfund Tee und 50 Gramm Kaffee.

Auch die Lieferung von Fleisch, Butter, Lederschuhen, Möbeln und Autos wurde angekündigt - für den Kusbass. Das konnte die Arbeiter der anderen Industriegebiete der Sowjet-Union nur ermuntern, auf ihre Lenin-Plätze zu gehen und derart, mit gesammeltem Anstehen, dieselben Zuteilungen zu erkämpfen.

Doch für alle hat der Sowjetstaat eben nicht die köstlichen Streikprämien in den Lagerhäusern - darin liegt ja der Grund der Krise. Nur wenige Streikende, urteilte "Trud", könnten wirklich glauben, man brauche die Regierenden nur unter Druck zu setzen, um die Läden zu füllen, als ob die Regierung "einen Sack mit dem großen Geld und mit Lebensmitteln habe".

In Wirklichkeit klafft im Sowjet-Etat ein Riesenloch von 300 Milliarden Mark. Und was da schleunigst aus Sowjetproduktion angeliefert wird - wenn es denn ankommt -, kann die Sowjetkonsumenten kaum zufriedenstellen.

Denn im Sowjetreich, dessen Medien sich an Streiks im Westen weiterhin delektieren, war offener Arbeitskampf verboten; so artikulierte der Sowjetarbeiter seinen Protest durch andauernde Langsamarbeit, die eine Art gesamtnationaler Bummelstreik wurde, und in Pfuschproduktion, die sich innerhalb eines Jahres dramatisch gesteigert hatte.

Soeben unterrichtete das Handelsministerium der Russischen Föderation über die letzte Mängelrügen- und Ausschußquote: bei Brot zehn Prozent, den meisten Konserven ein Fünftel, bei Konfektion, Schuhen, Tauchsiedern, Fleischprodukten ein Viertel und bei Möbeln fast die Hälfte der gesamten Erzeugung.

Das Moskauer Magazin Nr. 6 bekam elf Zentner verdorbene Diätwurst geliefert. Im Streikgebiet Kemerowo, wo es derzeit keinen Alkohol gibt, lieferte eine Getränkefabrik ungenießbaren Saft.

Gorbatschow unter Druck: Er versprach, die KPdSU werde ein Drittel ihrer Parteikasse unter "arme Leute" verteilen - 1,5 Milliarden Mark, das war noch keiner KP auf der Welt eingefallen. Und er kündigte eilends an, was seine Wirtschaftsexperten vor Jahren schon empfohlen hatten: den Import von Konsumgütern aus dem Westen im Wert von 30 Milliarden Mark.

Wo immer er die Devisen dafür herbekommt - auf jeden Sowjetbürger entfallen bei dieser Nothilfe Westgüter im Wert von 100 Mark. Genug gegen die Revolution?

Die Arbeiter riefen nicht nur nach Nahrung und einer Steppjacke für den Winter, sie verlangten gar die Abschaffung aller Funktionärsprivilegien und eine neue Verfassung, was heißt: einen Machtwechsel.

Sie verlangten Selbständigkeit ihrer Bergwerksbetriebe und Mitbestimmung. Die "Loslösung der Unternehmen von den Ministerien" - mithin ein Ende der staatskapitalistischen Zentralverwaltungswirtschaft - hatte auch der Parteisekretär Bakatin voriges Jahr postuliert und ein abschreckendes Beispiel erzählt: Man habe Bergarbeitern aus Sibirien gestattet, Kohle, die sie über den Plan hinaus gehauen hatten, ins Ausland zu verkaufen, um von dem Devisenerlös Apparate für ihr Krankenhaus anzuschaffen. Aber monatelang fanden sie in Moskau niemanden, der ihnen die Exportgenehmigung erteilte.

Seit 1. Januar 1988 sieht das mit Aplomb verkündete "Gesetz über den Staatsbetrieb" einen eigenen Etat und die Selbstfinanzierung der Unternehmen vor - nichts hat sich seither geändert.

Die Ministerien erteilen weiterhin, nun unter der Bezeichnung "Staatsauftrag", ihre Produktionsauflagen, mit denen jeder Firma Rohmaterial zugewiesen, der Lieferant benannt, der Aufwand kalkuliert, die Lohnsumme festgesetzt, der Ausschuß eingeplant, der Preis verordnet, der Käufer bestimmt, der Gewinn beziffert und abgeschöpft wird.

Bakatin berichtete aus dem Kusbass, von dem dort erwirtschafteten Profit (1,7 Milliarden Rubel) flössen 1,4 Millionen ins örtliche Budget zurück - weniger als ein Tausendstel.

Wie im Revolutionsjahr 1917 wollen die Arbeiter ihre Betriebe selbst führen. "Wir wissen, Michail Iwanowitsch, daß nicht alles in Ihrer Macht steht", erklärten sie dem Minister im Kusbass, "aber geben Sie uns das Wichtigste, die wirtschaftliche Selbständigkeit. Alles andere schaffen wir selbst. Geben Sie uns die Möglichkeit, besser zu arbeiten, um dann besser leben zu können."

Schtschadow erwiderte den Arbeitern, sie seien dafür noch nicht "vorbereitet": Man brauche auch ökonomische Fachkenntnisse. Die Arbeiter drängten daraufhin, bis zum nächsten Morgen solle er einen Befehl unterschreiben, daß die Gruben nicht mehr vom Kohle-Ministerium abhängig seien.

Schtschadow unterschrieb und wies sogar noch Telegramme aus Moskau vor, daß er dazu befugt sei.

Die Kumpel hatten speziell das Recht verlangt, ihre Kohle selbst zu vermarkten, mindestens die über den Staatsauftrag hinausgehende Fördermenge. Die Delegierten der Streikkomitees aus elf Städten des Kusbass debattierten im Artjom-Kulturpalast von Prokopjewsk stundenlang über die Verteilung der Devisen, die im Falle eines freien Verkaufs auf dem Weltmarkt erlöst würden.

Einer schlug vor, 40 Prozent an den Staat abzuführen, ein anderer wollte alles für den Betrieb behalten, ein dritter fragte, wovon der Staat dann die Getreide-Importe bezahlen solle. Der nächste: "Vielleicht verhandeln wir hier überhaupt Stuß. Und die Leute draußen werden uns nicht verstehen. Die wollen doch, daß wir die Probleme des Lohns, der Renten und der Versorgung lösen." Der fünfte befand, daß sich die sozialen Probleme nur mit Einnahmen aus harter Währung lösen ließen.

Gemeinsam verlangten alle eine Erhöhung des Kohlepreises von derzeit 13,59 Rubel je Tonne, nach offiziellem Kurs 40 Mark; Weltmarktpreis: 90 Mark. Politbürokrat Sljunkow erfüllte großzügig den Arbeiterwillen: Der Großhandelspreis für Kohle werde verdoppelt.

Er schenkte, was längst gewährt war. Das Staatskomitee für Preise hatte schon am 12. Juli vorigen Jahres die neue Preisliste Nr. 0301 herausgegeben, wonach der Preis für eine Tonne Kohle, Kohleprodukte und Briketts en gros auf 25,90 Rubel angehoben wird.

Damit liegt er noch immer unter dem Weltmarktpreis, dem einzigen Wertmaßstab für die willkürlich ermittelten Preise der Planwirtschaft. Mangels Markt steigert die Verdoppelung Inflation und Überproduktion: Die geförderte Million Tonnen, die im Kusbass herumliegt - zwölf Millionen Tonnen sind es in der ganzen UdSSR -, bleiben dort angeblich aus Mangel an Transportraum.

Als sich die Halden im Donbass vorletzte Woche selbst entzündeten, machte man Rüstungsbetriebe dafür verantwortlich, die 160 000 Güterwagen zurückhielten. Wirklicher Grund laut "Komsomolskaja prawda" für das Vergammeln der Kohle: "Niemand braucht sie."

Mit seinen riesigen Öl- und Gasreserven, 44 Kernreaktoren und zahlreichen Wasserkraftkaskaden benötigt selbst der Energieverschwender UdSSR keine Jahresförderung von derzeit 600 Millionen Tonnen Kohle. Das früher erwogene Schrumpfen der Branche aber war politisch nicht durchsetzbar: Die 2,7 Millionen Bergarbeiter galten allemal als Unruhepotential.

Schtschadow teilte jetzt mit, schon seit Beginn der planmäßigen Industrialisierung 1930 sei die Kohleindustrie "planmäßig verlustbringend" gewesen. Investitionen bleiben deshalb aus.

So hauen die Bergarbeiter denn weiter, mit altmodischem Mammutgerät oder nach Urväterart knieend mit der aus eigener Tasche bezahlten Hacke, Klinge oder Axt - sinnlos, unproduktiv, unterbezahlt.

Während der Staat immer noch zur Leistungssteigerung auch im Bergbau trommelt, sinkt die Arbeitsproduktivität in den Gruben, weil Ersatzinvestitionen fehlen, die Motivation der Kumpel, zumal bei unzureichender Ernährung, schwindet.

Aber jedes Jahr Ende August, am Tag des Bergmanns, sagen Jubelkinder in den Bergwerken die Berufs-Ode auf, die erst jetzt, da die Kumpel selbst ihr Machtwort sprachen, ihren Sinn erhält:

Bislang war es Prometheus, der Licht und Wärme allen brachte. Das Feuer, das der Welt er schenkte, leuchtet hell. Klar ist und mutig des Helden Blick. Doch heute heißt er: Bergmann.

Der lyrische Zuspruch nebst Ehrenfahnen und Ruhmestafeln für fleißige Brigaden soll nach Sowjetbrauch den erbärmlichen Lohn ausgleichen. Im Kusbass verdient ein Hauer der höchsten Lohnstufe 3,42 Rubel pro Stunde, das sind offiziell fast zehn Mark und dreimal soviel, wie dort eine Näherin verdient. Doch es reicht meist gerade für ein Kilo Fleisch - wenn es welches gibt.

Die Geschäfte vieler Bergarbeiterstädte der sibirischen Region sind seit langem nicht einmal mit dem Notwendigsten versorgt. Wo immer sich die Brigaden der Nachtschicht weigerten, ihre Grubenlampen abzugeben, um so auch gleich die Frühschicht am Einfahren zu hindern, war der Auslöser für solche Widersätzlichkeit allemal lokaler Versorgungsmangel - weit über die bekannten Allunions-Engpässe bei Fleisch, Seife und Zucker hinaus.

In den Metzgereien des Kusbass ist seit Wochen nur fetter Speck zu besichtigen, einige Milchprodukte werden nur an Familien mit Kleinkindern abgegeben. Kaffee und selbst Tee sind längst zu Raritäten geworden.

Wer für den harten Winter im sibirischen Kohle-Gürtel einen warmen Mantel und dicke Stiefel benötigt, kann inzwischen nicht einmal mehr auf sowjetische Zuteilungs-Absurditäten wie ein überraschendes Schnäppchen im heißen Sommer rechnen. Manche Läden, empörte sich ein Redner in Prokopjewsk, seien "wie leergefegt, man könnte sie ebenso ganz schließen".

Auslegeware, selbst dünnes Linoleum für die Betonfußböden der zusammengeschusterten, zugigen Neubauten ist bestenfalls während einer Hamsterfahrt ins fast 3000 Kilometer entfernte Moskau zu beschaffen. "Leg Säcke in die Bude, die kann dein Mann im Betrieb klauen", riet eine Verkäuferin allen Ernstes einer Bergmannsfrau aus Nowokusnezk, "oder nimm afghanische Teppiche, die gibt's gerade" - zum Preis von vier Monatslöhnen.

"Ich arbeite seit 20 Jahren unter Tage", diktierte ein Kumpel aus Prokopjewsk dem Reporter seiner Lokalzeitung in den Block, "und lebe noch immer in einer Baracke, deren Decke jeden Moment einstürzen kann. Jeden Tag riskiere ich mein Leben bei der Arbeit im Schacht, jetzt fehlt nur noch, daß ich im eigenen Heim verschüttet werde."

20 Prozent der Bevölkerung im Kemerowo-Gebiet leben in solchen Bruchbuden oder verfügen überhaupt nur über eine provisorische Schlafstelle. Einen Platz freilich haben sie fast alle: auf einer end- und hoffnungslosen Warteliste für die Zuweisung einer halbwegs menschenwürdigen Wohnung, wie sie Gorbatschow jedem Sowjetbürger bis zum Jahr 2000 versprochen hat.

Am Streikort Donezk wird in die Liste der Wohnungsuchenden aufgenommen, wer nur sechs Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung hat. Durchschnittliche reine Wohnfläche aller Einwohner von Donezk sind 6,9 Quadratmeter.

"Manche wollen wissen, warum man hier zehn bis zwölf Jahre auf eine Wohnung warten muß", beschwerten sich Streikende im Kusbass. Es sei ihnen praktisch unmöglich, im Sommer einen Platz an einem Ferienort - auch der wird zugeteilt - zu bekommen, "wie ihn sich die Vorgesetzten jedes Jahr besorgen".

Seit Chruschtschow Ende der fünfziger Jahre bei einem Besuch von Workuta die Sonderzuteilungen für die freien Bergarbeiter strich, gehören die Kumpel nicht mehr zu den besser versorgten Werktätigen der Sowjet-Union - trotz der Risiken ihrer Arbeit.

Die Zechenanlagen seien überall in der UdSSR total veraltet, beklagten Streik-Sprecher, von Arbeitssicherheit könne auf den meisten Pütts keine Rede sein. Im Kusbass erlagen voriges Jahr 152 Bergleute einem tödlichen Arbeitsunfall, in der ganzen UdSSR verloren in den letzten neun Jahren 10 000 Bergleute das Leben. Das waren, bemerkte die "Komsomolskaja prawda", "nur etwas weniger, als während jener Jahre in Afghanistan starben".

Kein moderner Industriestaat ignoriert Sicherheit und Wohlfahrt der Arbeitenden derart souverän wie ausgerechnet die UdSSR, die sich unermüdlich auf das Proletariat beruft. Ihre Werktätigen schützt keine Gewerkschaft, die ihre Interessen vertritt. Streik gilt als Verletzung der Arbeitsdisziplin.

Die sowjetischen "Berufsorganisationen" - wer ihnen nicht beitritt, bekommt nur halbes Krankengeld - sind im Verständnis der Arbeiterbewegung des Westens "gelbe Gewerkschaften", dazu ausersehen, auf Steigerung von Produktivität und Arbeitsdisziplin zu achten sowie spontane Streiks zu verhindern. Den Streikenden der vorigen Woche boten sie immerhin kostenloses Essen.

Tarifverhandlungen gibt es nicht. Die Löhne werden nach Anhörung von Spitzenfunktionären der Berufsorganisationen durch das "Staatskomitee für Arbeit und soziale Fragen" festgesetzt. Der Zuwachs an Realeinkommen ist seit einem halben Jahrhundert grundsätzlich niedriger als die Wachstumsrate des Sozialprodukts.

Das stieg von 1970 bis 1982 um 78 Prozent, der Gewinn der gesamten Volkswirtschaft um 117 Prozent - das Durchschnittseinkommen der Arbeiter und Angestellten aber nur um 45 Prozent. Wartezeiten bei Ausbleiben von Zulieferungen, auch Sonderschichten und Ausschußproduktion, für die der Arbeiter nicht verantwortlich ist, bleiben unbezahlt, sogar die oft zwei Stunden An- und Abmarsch unter Tage vom Schacht zur Abbaustelle.

Auch sonst schöpft die Sowjetmacht beim Werktätigen gehörig ab: Die indirekten Steuern auf Massenbedarfsgüter bringen dem Fiskus 37 Prozent aller Einnahmen. Der aber lenkt nur acht Prozent aller Investitionen in die Konsumgüterproduktion. Daran hat auch Gorbatschow kaum etwas geändert.

Der Durchschnittslohn von 234 Rubel im Monat (die meisten Akademiker liegen weit darunter), nach offiziellem Kurs gut 700 Mark, gestattet einer Sowjetfamilie ungefähr den Lebensstandard, den ein Sozialhilfeempfänger in der Bundesrepublik genießt - sein Einkommen reicht gerade für die Lebensmittel.

So arbeiten Frauen aus nackter Not mit, was auch noch als Emanzipation gerühmt wird: 51 Prozent aller Werktätigen sind, auch bei harter Straßen- und Bauarbeit, weiblichen Geschlechts.

In dem Land, das sich dem Proletariat der ganzen Welt als Vorbild empfahl, arbeitet der Empfänger eines Durchschnittslohns zwar nur halb so lange wie ein Bürger der Bundesrepublik für Brot, einen Busfahrschein, einen Quadratmeter Wohnfläche vergleichbarer Qualität.

Doch doppelt soviel Arbeitszeit wie an der Ruhr wendet er am Don für Kohl, Kartoffeln, Bier, ein Herrenhemd oder eine vergleichbare Waschmaschine auf. Dreimal soviel kostet ihn Milch, ein T-Shirt, ein Farbfernseher, auch Wasser, und neunmal soviel ein Kleinwagen (vier Jahreslöhne).

Scheidet er aus dem Arbeitsleben, fällt er mit durchschnittlich 75 Rubel im Monat (Bauern: 48 Rubel), dem Gegenwert eines halben Wintermantels, meist unter die Armutsgrenze - deshalb auch die Rentenforderungen der Streikenden.

Der Sowjetarbeiter von heute lebt, nach sieben Jahrzehnten Kommunismus, mitunter schlechter als einst sein Klassenbruder unter dem Zaren. Der Schlosser Nikita Chruschtschow, 20, verdiente 1914 den üblichen Lohn eines Berufsanfängers von 45 Rubel im Monat, etwa ein Viertel des Nominallohns eines jungen Schlossers heute. Brot, damals für sechs Kopeken das Kilo, kostet heute auch viermal mehr, Zucker - wenn es ihn gibt - relativ sogar etwas weniger.

Doch für das Grundnahrungsmittel Fleisch waren vor dem Ersten Weltkrieg 40 Kopeken das Kilo zu zahlen. Heute sind es - wenn es welches gibt - meist über drei Rubel, real mithin doppelt soviel wie zu Chruschtschows Jugendzeit.

Kaum erkannt war damals - in Ost wie West - die Verseuchung der Umwelt durch die Industrie. Die Sowjet-Union tut dagegen in ihren Industrierevieren so wenig, daß die Menschen unter den Umweltschäden heute oft schon stärker leiden als unter Armut und Ausbeutung, Behördenwillkür und Unterdrückung der Nationalitäten. Die rücksichtslose Industrialisierung hat Rußland weithin verheert, an einigen Stellen gar in eine Kloake verwandelt.

In den verqualmten Siedlungen des Kusbass liegt die Lebenserwartung unter dem Landesmittel. Die sibirische Filiale der Akademie der Wissenschaften konstatiert wachsende Kindersterblichleit und genetische Schäden durch die Umwelt. Die Demonstranten forderten "reine Luft", die Streikenden schrieben (ohne Erfolg) in ihren Forderungskatalog: Stopp des Tagebaus und Verbot des Schürfens in Flüssen, dazu Rekultivierung der Abraum-Gebirge.

Kemerowo schleudert jedes Jahr fast 140 000 Tonnen Schadstoffe in die Luft, Nowokusnezk nebenan fast eine Million Tonnen. Fünf Sowjetminister erhielten deshalb vom Politbüro schon vor fünf Jahren einen Tadel.

In sämtlichen großen Industriestädten der UdSSR liegt die Luftverschmutzung über dem Grenzwert der Weltgesundheitsorganisation, in 102 Städten zehnmal höher. Die Hälfte der Schadstoffemissionen ukrainischer Fabriken von jährlich 11,5 Millionen Tonnen entsteht allein in den Streikgebieten Donezk und Dnjepropetrowsk; in Kriwoi Rog und Mariupol ist der Auswurf zu 70 Prozent Kohlenmonoxid.

In Magnitogorsk am Ural schüttet vor allem das Hüttenkombinat pro Jahr zwei Tonnen Dreck je Einwohner aus. Als bei Smog den Säuglingen die Luft wegblieb, erreichte eine Bürgerinitiative in Nischnij Tagil voriges Jahr wenigstens die Schließung zweier alter Kokereien.

Im sibirischen Norilsk aber blasen die Fabriken jährlich gar 13 Tonnen je Einwohner in die Umwelt, in Krasnojarsk werden die Grenzwerte für Benzpyren um das 50fache überschritten.

Schon 1983 deckte die "Iswestija" auf, daß die Kohlegruben des Kusbass die Flüsse in "schmutzige Abfallgruben" verwandelt hätten. Die im Krieg dorthin evakuierten Betriebe aus dem Donbass hatten keine Kläranlagen gebaut - die forderten jetzt die Streikenden.

20 Milliarden Kubikmeter Abwässer mit unzulässigem Verschmutzungsgrad fließen jedes Jahr in die Flüsse. Allein in der Südukraine stammen 700 Millionen Kubikmeter aus der Eisen- und Stahlindustrie.

Voriges Frühjahr gerieten nach Störfällen in Chemiefabriken mehrmals Phenole in den Donez. Die Hälfte der Abwässer von Dnjepropetrowsk liegt über dem amtlich festgesetzten Verschmutzungsgrad.

Der Biologe Alexej Jablokow, der Greenpeace in der UdSSR organisiert, zog Bilanz: Bis zu 40 Prozent der Sowjetbürger leben unter ungünstigen Umweltbedingungen, 20 Prozent "in einem ökologischen Katastrophengebiet". Die Zeitschrift "Nowy mir" berichtete aus der Sowjetrepublik Usbekistan, daß dort als Folge von Umweltschäden jedes zehnte Kind im ersten Lebensjahr stirbt.

Ein Arbeitsleben in der UdSSR läuft in der tristen Welt überfüllter Mietskasernen und Verkehrsmittel ab, in verpesteten Städten, verdreckten Fabriken, und das alles bei einem Freizeit-Angebot so öde wie nirgends sonst in einem Industriestaat.

Es waren nicht erst die Bürokraten aus der Stalin-Schule, die gegenüber den Bedürfnissen Schaffender ein solches Maß an Menschenverachtung in ihrer unsäglichen Propaganda auch noch als vorbildlich verkauften. Wann immer es um den Menschen ging, nicht den ideologisch verklärten Faktor der Geschichte, hatte schon Staatsgründer Lenin Geringschätzung für das Material der eigenen Machtentfaltung gezeigt.

Der Rechtsanwalt aus zaristischem Beamtenadel, der nicht eine Stunde seines Lebens abhängige Lohnarbeit leisten mußte, nahm als Premier von Rußland den Arbeitern die Fabriken, die sie nach ihrer Februar-Revolution 1917 übernommen hatten, wieder ab. Für seine Machtergreifung im Oktober 1917 war niemand in den Streik getreten. Lenin übergab die Fabriken dem Staat, der seither eifersüchtig über sein Wirtschaftsmonopol wacht.

Er ordnete an, "Arbeiter, die sich vor der Arbeit drücken, ins Gefängnis zu stecken". Er zählte auch sie zu den "schädlichen Insekten, den Flöhen", von denen die russische Erde zu säubern sei. Dazu gehörten auch jene "Drückeberger", die in Petrograd gegen seine Diktatur streikten - man solle sie Klosetts reinigen lassen, riet er, ihnen zur besseren Überwachung "gelbe Pässe" zuteilen, jeden zehnten erschießen.

Er hatte die Arbeiter keines politischen Bewußtseins für fähig gehalten: Sie dächten "nur gewerkschaftlich". Auch das war ihm zuviel, als er das Taylor-Rationalisierungssystem - die erste Akkordpeitsche - einführte: "Jede unmittelbare Einmischung der Gewerkschaften in die Leitung der Betriebe muß als unbedingt schädlich und unzulässig betrachtet werden, die Gewerkschaften müssen die engsten und ständigen Mitarbeiter der Staatsmacht sein."

Das blieben sie, die Berufsorganisationen, bis heute. So wurde der sichtbarste Erfolg der Streikenden vom Kusbass, daß die Regierung die Streikkomitees als Partner anerkannte, sie legalisierte und auch nach der Rückkehr der Belegschaften in die Bergwerke weiter bestehen lassen will - als künftige Interessenvertretung der Bergleute.

Das sowjetische Proletariat hat von nun an seine Klassenorganisation, wie das polnische vor neun Jahren, dessen "Solidarnosc" heute die Regierung übernehmen könnte, wenn es nach den abgewirtschafteten Kommunisten ginge. In der Ausbreitung des Kusbass-Streiks auf die anderen Reviere sah die "Trud" ein "Zeichen der Solidarität". Das russische Wort dafür lautet "Solidarnost".

Zu Legalität und Legitimität von Streiks hatte sich der Irkutsker Staatsrechtler Schischkin bereits am 14. Juli in der Regierungszeitung "Iswestija" geäußert: "Wie kann man", fragte Schischkin, auf den jahrzehntelangen Selbstbetrug verweisend, daß Streiks dem Sozialismus "wesensfremd" seien, "etwas als gesetzwidrig bezeichnen, für das es bei uns überhaupt kein Gesetz gibt?" Schließlich habe die Sowjet-Union schon 1966 die Uno-Konvention unterzeichnet, die Streik als ein legitimes Mittel im Arbeitskampf anerkennt. Zu "Geiseln des Apparats" würden die Arbeiter durch die Berufsorganisation.

Die ist in Jahrzehnten an die Propaganda-Lüge von der grundsätzlichen Harmonie zwischen Arbeit und bürokratischer Verfügungsgewalt über die Betriebe gewöhnt, zur Verteilerorganisation für Ferienplätze, Werkswohnungen und Theaterkarten verkommen. Jetzt erst beginnt sie unter dem Druck der Massenunzufriedenheit, den Streik wieder "als äußerstes Mittel unserer Interessenvertretung" zu entdecken - so ihr Betriebssekretär in einem Moskauer Automobilwerk.

Ihr Vorsitzender Schalajew hatte im vergangenen Jahr noch abzuwiegeln versucht: Trotz erster Streiks von Bus- und Taxifahrern, Verkaufspersonal, Montagearbeitern, Automobilwerkern, Teppichwebern und Bergleuten in fast allen Teilen der Sowjet-Union müsse die Arbeitsniederlegung die "rare Ausnahme" bleiben.

Doch auch Schalajew schien bereits zu ahnen, daß die Perestroika-Bewegung, die Land und Leute in der Sowjet-Union erfaßt hat, eines nich t allzu fernen Tages auch die Arbeiter erreichen und damit die Schimäre von der sozialen Gerechtigkeit hinwegfegen würde - wie jetzt in der sowjetischen Kohleindustrie.

Schalajew verlangte deshalb genaue gesetzliche Regelungen, "daß nur dann zum Streik aufgerufen werden darf, wenn alle anderen Möglichkeiten der Verwaltung und der Berufsorganisation zur friedlichen Konfliktregulierung vollständig ausgeschöpft sind" - ein Fall, der nach Bürokraten-Lesart eigentlich nie eintreten kann.

Gorbatschow immerhin scheint in den letzten Monaten begriffen zu haben, daß sein Prestige angesichts der Versorgungsmisere und des in vielen Landesteilen zum Zerreißen gespannten sozialen Netzes auf dem Spiel steht - nicht nur bei den liberalen Intellektuellen, denen die gesamte Umgestaltung zu langsam und zu halbherzig verläuft, sondern vor allem bei den Arbeitern.

Sie begannen, so sah noch in der vergangenen Woche ein Leningrader Soziologe diese tödliche Perestroika-Gefahr, "sich nach rückwärts zu orientieren, von den volleren Geschäften zu Zeiten Stalins und auch noch Breschnews zu träumen und in einen verhängnisvollen Anti-Intellektualismus zu verfallen - nach dem Motto: Die Politik Gorbatschows begünstigt einseitig nur die Intelligenz".

Die Streiks der letzten Wochen und andere, die möglicherweise in anderen Branchen bevorstehen, gelten der Perestroika-Avantgarde denn auch eher als Chance, eine neue Koalition zu schmieden. "Unsere Perestroika war bisher eine Revolution von oben", bemerkte die "Sowjetskaja Rossija", "nun empfängt sie mächtige Unterstützung von unten." Die Revolution fängt demnach erst an.

So gut wie alle Forderungen der Streikenden sind auch Programmpunkte der Perestroika, die sich ohne Druck von unten nicht hatten durchsetzen lassen. Jetzt erst könnte Gorbatschow, getragen vom proletarischen Aufbegehren, seine Reform vorantreiben.

Vorigen Mittwoch erklärte er die Arbeiterforderungen für gerechtfertigt, weil sie auf eine "soziale Perestroika" zielten. Minister Schtschadow billigte allen Sowjet-Bergleuten die Konzessionen vom Kusbass zu. Gorbatschow goß sogar Öl ins Feuer, als er dem Obersten Sowjet mitteilte, es seien Schriften gefunden worden, die zu einem Streik der Eisenbahner am 1. August aufriefen.

Doch die proletarische Revolution von unten zu eröffnen, ist für einen Machthaber ein Spiel, dessen Ausgang unberechenbar bleibt. "Die momentane Situation", schärfte er denn auch den Abgeordneten ein, "könnte alles zerstören, was wir zur Zeit machen." Er mochte sogar "besondere Maßnahmen" nicht ausschließen.

Schießen, wie in Mittelasien und vorige Woche in Abchasien, oder Giftgas-Einsatz wie im März in Tiflis? Danach würde der proletarische Widerstand anders aussehen und ausgehen als in den Nationalitätenkonflikten, deren die Partei schon nicht Herr wird - gesammelte Argumente für jene Altgenossen, welche von der Perestroika sagen, sie führe das Land und die Partei in den Abgrund. Vorigen Dienstag war im ZK schon die Rede von einem zweiten Parteichef - neben Gorbatschow.

Der suchte denn auch wieder Schulterschluß mit der Partei, die er im "Belagerungszustand" sieht, und plädierte wieder für ihre "Führungsrolle". Die von ihm selbst betriebene Unterordnung der Partei unter den neuen Obersten Sowjet erklärte er eilends für "politisch falsch", die Personalpolitik sei und bleibe Sache der Partei.

Er wetterte wider "Anleihen aus dem Arsenal der bürgerlichen Demokratie und des Privatunternehmertums". Meinte er damit auch Koalitionsfreiheit, Streikrecht und Tarifautonomie?

Der antistalinistische Autor Anatolij Rybakow ("Die Kinder des Arbat") aber sah sich bereits als Zeugen eines wahrhaft historischen Umbruchs: "Unsere Arbeiterklasse zeigt, daß sie eine wirkliche Kraft auf der politischen Bühne ist. Diese Wendung kann die Bürokraten nur erschaudern lassen."

DER SPIEGEL 30/1989

Autor: nokiland


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