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Die Tür flog ganz auf Die baltischen Sowjetrepubliken im Aufruhr: Unabhängigkeit oder Kriegsrech


Mit der längsten Menschenkette der Geschichte gedachten über eine Million Balten des Hitler-Stalin-Paktes, der sie vor 50 Jahren die Unabhängigkeit kostete. Die wollen sie wieder - doch sogar Reformkommunisten halten am Imperium fest, sie konzedieren nur mehr Autonomie. Sonst drohe die Gefahr einer "letzten Katastrophe".

Nach Arbeitsschluß läuteten die Kirchenglocken, auch im Dom von Riga, der erst seit kurzem wieder als Gotteshaus genutzt werden darf. Es war der "Internationale Tag des schwarzen Bandes", so stand es mit gemaltem Stacheldraht auf den Anstecknadeln, die sich jeder zweite an die Brust geheftet hatte.

In den Hauptstädten der drei baltischen Sowjetrepubliken, im estnischen Tallinn (Reval), im lettischen Riga wie im litauischen Wilna und in den Dörfern dazwischen gingen die Menschen in Massen auf die Straßen. Am vorigen Dienstag kurz nach 19 Uhr faßten sie sich an den Händen: eine städteverbindende Menschenkette.

Sie nannten es die "singende Revolution": Sie stimmten ihre hergebrachten Nationalhymnen an und auch ein Lied der Widerstandskämpfer gegen die Sowjetbesatzer, sie zeigten die Farben ihrer Länder aus der Zeit zwischen der Selbständigkeitserklärung 1918 und der Sowjetisierung 1940.

Sie forderten Annullierung jenes Pakts, mit dem vor 50 Jahren Hitler und Stalin die drei kleinen Staaten der sowjetischen Machtsphäre zugeschlagen hatten - die einzigen Staaten Europas, die seither von der Landkarte verschwunden sind.

Sie forderten Selbstbestimmung - und Austritt ihrer Sowjetrepubliken aus der UdSSR. Solch Unterfangen berührt die europäische Sicherheit, ein Fall, der in der Helsinki-Schlußakte von 1975 nicht vorgesehen ist.

Sie bildeten eine kaum unterbrochene Kette über 600 Kilometer, die das sowjetische Fernsehen von einem Hubschrauber aus vorführte: laut Tass 500 000 Litauer (von 2,8 Millionen) und jeder dritte Este und nach einer Schätzung der unabhängigen Volksfront jeder vierte Lette. Über eine Million friedlicher, disziplinierter Demonstranten - das hatte es auf Sowjetterritorium noch nicht gegeben, und das zeigt, wie der verlangte Volksentscheid über eine Lostrennung von Moskau ausginge.

"Ich habe nie in einem unabhängigen Litauen gelebt", sagte der Demonstrant Ciocys, "ich glaube, es wird kommen - es muß kommen, für meinen Sohn." Der ist drei Jahre alt.

Sie wollen den Vielvölkerstaat Sowjetunion seiner kostbarsten Erwerbungen berauben: Die drei Ostseerepubliken haben von allen Bundesländern der UdSSR den höchsten Lebensstandard und die effektivsten Fabriken. Ein russischer Hafenarbeiter auf dem Tallinner Rathausplatz: "Was wollt ihr Esten eigentlich noch mehr? Uns allen geht es doch dreimal besser als in den anderen Republiken."

Sie wollen noch mehr. Das Sowjetfernsehen verurteilte ihren Schrei nach Unabhängigkeit: Der Glaube, Europas Grenzen könnten jetzt verändert werden, verrate "politische Naivität". Das Moskauer Parteiorgan Prawda aber warf die vernünftige Frage auf: "Gibt es dazu eine Alternative?"

Bis dahin hatten die Moskauer Reformer sich das Baltikum als Experimentierfeld der Perestroika vorgestellt, Koalitions- und Pressefreiheit gewährt und im Juli noch rasch beschlossen, den drei Randstaaten wirtschaftliche Autonomie einzuräumen, vom nächsten Jahr an. Denn noch werden für über 90 Prozent der Unternehmen alle Entscheidungen im fernen Moskau getroffen - selbst die Backrezepte der estnischen Keksfabrik dürfen ohne Genehmigung aus der sowjetischen Hauptstadt nicht geändert werden.

Doch die Moskauer Liberalität ging nicht weit genug und kam zu spät. Dabei war die nationale Aufwallung vorherzusehen, das Pakt-Jubiläum ausdrücklich einer Kommission des Obersten Sowjet als Termin gesetzt worden, die imperialistische Aufteilung Osteuropas rechtlich zu annullieren.

Per Briefvotum beschloß die Kommissionsmehrheit, die für echt befundenen Geheimprotokolle "für null und nichtig" und unvereinbar mit dem Leninismus zu erklären. Doch der Vorsitzende Alexander Jakowlew, Chefideologe der KPdSU, erklärte die Protokolle für juristisch unverbindlich, ihre Echtheit deshalb für unwichtig und verschob die Veröffentlichung des Kommissionsbeschlusses: "Würde man den Vorschlag annehmen, dann müßten wir den Krieg für null und nichtig erklären, ich weiß bloß nicht, wo wir dann die Millionen Toten abbuchen sollen."

Walentin Falin, Kommissionsmitglied und Chef-Außenpolitiker der KPdSU, kündigte sogar neue Kriegsgefahr an: "Wenn wir auch weiterhin danach streben, das Unteilbare zu teilen und auch die Länder und Grenzen neu zuzuschneiden und umzugestalten, in Verachtung des Lebens und der Sicherheit der Menschen, dann werden wir eine noch schlimmere und diesmal die letzte Katastrophe heraufbeschwören."

Grund seiner Ängste: Schon tauchten auf der Baltikum-Demonstration georgische und ukrainische Fahnen aus der Vor-Sowjet-Zeit auf, schon demonstrierten auch Tausende in Bessarabien und in Kiew gegen den Pakt, verurteilte der polnische Sejm einstimmig den Pakt, der Hitler - so der Solidarnosc-Sprecher im Parlament - den Überfall auf Polen erleichtert hatte.

Dabei hatte Jakowlew, gelernter Historiker, selbst auf einen vergessenen Vertrag der UdSSR mit der polnischen Exilregierung vom 30. Juli 1941 aufmerksam gemacht, wonach die Abmachungen Stalins mit Hitler "hinsichtlich der territorialen Veränderungen in Polen ihre Gültigkeit verloren haben".

Doch selbst die Gorbatschow-Kommunisten beharren darauf, so der estnische Sowjet-Abgeordnete Professor Lippmaa, "die territorialen Gewinne, die Stalin in den Verhandlungen mit Hitler herausschlug, zu behalten". Stalin gilt ihnen nur innenpolitisch als ein Verbrecher, in Sachen Außenpolitik und Krieg weiterhin als Held und Retter - weil das zusammengeraubte Imperium auf dem Spiel steht.

Die "Reifeprüfung der Entstalinisierung, den entscheidenden Test der Perestroika" (so die Abgeordnete Marju Lauristin), hat Moskau nicht bestanden. Eine Kommission des litauischen Parlaments stellte denn auch vorigen Dienstag unnachgiebig fest: Die Annexion war ein "internationales Verbrechen".

Die Stimmung gerät außer Kontrolle. "Es entsteht eine Situation nationaler Hysterie", beschwerte sich die Prawda. "Bürgerliche Polit- und Sozialstrukturen aus der Zeit vor 1940 werden restauriert, darunter sogar ehemalige politische Parteien."

Laut Umfragen in Estland haben parteiferne Organisationen längst die KP an Popularität überflügelt - die Volksfront und die Grüne Bewegung, die Gesellschaft für das Kulturerbe und ein Christlicher Bund, die Unabhängigkeitspartei ERSP und der Bund der Arbeitskollektive. Diese "nicht registrierten", aber geduldeten Verbände finden mehr Anklang als die Kommunisten sogar bei den über 600 000 Einwohnern Estlands, die keine Esten, sondern zugewanderte Russen oder Ukrainer sind.

Dabei zürnen diesen Gastarbeitern die Einheimischen, die sich im eigenen Land bald in der Minderheit sehen. Zehntausende Landsleute waren deportiert worden, Hunderttausende Fremde wurden dafür importiert - zwecks Industrialisierung, welche die Umwelt und die Ostseestrände verseucht. "Keiner fühlt sich mehr verantwortlich", klagt eine Studentin, "alle Zugereisten benutzen unser Land, solange es ihnen Nutzen bringt. Dann lassen sie es achtlos hinter sich zurück."

Der KP blieb nur Anpassung an den Volkswillen, Unterstützung jeglicher Freiheitswünsche - unter der einzigen Bedingung: daß es nicht zu einer Sezession komme, sondern ein weithin autonomes Estland mit der UdSSR föderiert sei. Der Volksfront-Vorsitzende Rein Veidemann lobte den konzessionsbereiten KP-Chef Vaino Väljas, er vertrete "genuin-estnische Interessen in Moskau, mit dem Gesicht dem Volk zugewandt".

Väljas wünscht "wirtschaftliche Selbständigkeit unter dem Dach der Union" - um das Schlimmste zu verhüten. "Wir sind keine Extremisten, die das Boot ins Schaukeln und zum Kippen bringen", sagt sein Genosse Lippmaa.

Das Schlimmste kündigt Lagle Parek an, die Vorsitzende der Unabhängigkeitspartei (sie saß wegen Verteilung einer illegalen Zeitschrift von 1983 bis Anfang 1987 in einem Lager in Mordwinien ein): "Wirtschaftliche Selbständigkeit ist ohne politische Unabhängigkeit unmöglich. Eine verschlissene Maschine wie die Sowjetunion läßt sich nicht reparieren, sondern landet zwangsläufig auf dem Müll."

Doch die Nationalistin sieht auch, daß Moskau "brutal die Notbremse ziehen" könnte. Gorbatschow ("der erste Sowjetführer, der ein gebildeter Mensch ist") habe zwar begriffen, daß die UdSSR "am Rande des Abgrunds taumelt", doch mit der Demokratie spiele er nur: "Er wollte die Tür einen Spalt öffnen, doch die Tür flog ganz auf."

Die Moskauer Konzessionen reichen nicht, die neue Wirtschafts-Dezentralisierung ab 1. Januar 1990 fordert die Sezessionisten nur heraus: Der größte Teil der baltischen Industrie bleibt unter Moskauer Kontrolle, vor allem die Rüstungsproduktion. Dort arbeiten überwiegend Russen, während den Alteingesessenen meist Landwirtschaft und Dienstleistungsgewerbe geblieben sind. Mit einem Bürgerschaftsgesetz wollte Estland nur Ansässigen volle Rechte zubilligen, nicht aber den Heerscharen kurzfristig zugezogener "Migranten". Schon wurden neue Personalausweise entworfen. Moskau legte sein Veto ein und verwies das Gesetz an das estnische Parlament zurück, das daraufhin ein Wahlgesetz beschloß: Wählen darf nur, wer fünf Jahre im Lande wohnt. Moskau schickte auch dieses Gesetz zur Überprüfung zurück.

Schon dies sei ein Erfolg, befand Marju Lauristin, Kommunistin und Volksfrontlerin zugleich: Früher hätte Moskau "einfach glatt nein gesagt".

Die baltischen Nationalkommunisten, immer den Verbleib in der Union im Sinn, wünschen sich eine viel weiter gehende ökonomische Selbständigkeit. Eine baltische Wirtschaftsgemeinschaft soll ohne Umweg über die Moskauer Zentrale mit allen Bundesländern und mit fremden Staaten Handel treiben können, bei Konkurrenz von Aktiengesellschaften, Genossenschaften und Unternehmern. "Marktwirtschaft und Sozialpolitik nach dem Vorbild von Finnland und Schweden" proklamiert Frau Lauristin, einen "sozialdemokratischen Weg".

Moskauer Management estnischer Betriebe soll es nicht mehr geben, Estland will sie sozusagen nationalisieren, obwohl und weil diese Firmen - so Wirtschaftsminister Edgar Savisaar - "unrentabel und bankrottreif" sind.

Auch die Arbeitskräfte werden nationalisiert. Bei Einstellung eines Landfremden müssen die Betriebe neuerdings eine Ansiedlungsgebühr von 16 000 Rubel (über sechs Jahreslöhne) entrichten. Noch eine Idee haben die estnischen Reformkommunisten, die ungezügelte Wanderung an die Ostsee zu stoppen: Sonderläden für Mangelwaren und westliche Konsumgüter, käuflich allein gegen eine Kreditkarte, die nur erhält, wer in Estland längere Zeit wohnt und arbeitet - Vorstufe einer eigenen Währung.

Um den Ausverkauf der Märkte und Staatsläden an Zugereiste zu verhindern, fordern Verkäuferinnen schon jetzt Vorlage der polizeilichen Anmeldung ihres Kunden. Und manche ignorieren schlicht Käufer, die russisch reden. In der Menschenkette zwischen den aufsässigen Republiken erschienen Schilder: "Russen raus."

"Entweder eine unabhängige Republik oder eine Lage wie im armenischen Berg-Karabach", wo Kriegsrecht und Generalstreik herrschen - so prophezeit Raivo Vare, Vize-Abteilungsleiter im estnischen Obersten Sowjet, die Situation seines Landes in fünf Jahren.

Kriegsrecht an der Ostsee, "das wäre das Ende der politischen Glaubwürdigkeit der Sowjetunion, aber es gibt Kräfte, die das sogar betreiben".

DER SPIEGEL 35/1989

Autor: nokiland


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