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Ein Leben im Kinderheim Machern



Teil 2: Erziehung statt Um-Erziehung


Belohnung statt Strafe war das Basiskonzept der Erzieherinnen in Machern.

Gehen wir wieder ein paar Jahre zurück zur Zeit im "Trakt der Kleinen". Von Andrea, einer guten Freundin 10 Jahre älter als ich und freie Mitarbeiterin des Jugendamtes, erhielt ich mein erstes Lieblingsbuch geschenkt: "Die Spatzenelf". Im Kinderheim entwickelte ich mich daraufhin zu einer Leseratte. Dank der Bücher entwickelte sich ein Gerechtigkeitssinn und die Idee, sich auf die Seite der Schwächeren zu schlagen und ihnen zu helfen. Aber wohl auch der Keim für meine Ablehnung von Chefs und Vorgesetzten, die sich allein aufgrund ihrer Position für etwas Besseres halten und andere von oben herab behandeln.

Fernsehen gab es für die Unterstufe nur am Wochenende im Freizeitraum der "Großen". Manchmal durften die großen unter den Kleinen - die sich positiv bemerkbar gemachten Schüler der vierten Klasse - zu den Großen setzen und den 20 Uhr Film anschauen. Da hat man sich immer geadelt gefühlt und es war ein Anreiz sich ordentlich zu verhalten und in der Schule gute Noten zu erringen. Ja, so lief das. Es gab keine Bestrafungen, Prügel oder was man sonst alles hört. Nicht in Machern. Es wurde mit Belohnungen gearbeitet. Wer sich positiv entwickelte, durfte sich zu den Großen setzen und TV schauen. Er hatte einen Besuchstag ausser der Reihe, durfte in die Stadt mit den Großen, hatte mehr kleine Freiheiten, Vergünstigungen oder wurde mit einem verantwortungsvollen Posten bekleidet. So wie beispielsweise "Verantwortlicher bei der regelmäßigen Gartenarbeit", dem Laub-Harken.

Mich reizte das nicht soderlich. Ich war eher froh, möglichst unsichtbar bei den Erzieherinnen zu sein. Aber wenn ich heute darüber nachdenke, leisteten die Erzieher damals in Machern eine sehr gute pädagogische Arbeit. Vermutlich hat sich das auch nach der Wende herum gesprochen, denn das Kinderheim existiert auch noch heute als Standort mit neuer Führung.

Die Erzieher beschäftigten sich schon damals intensiv mit den Kindern, waren bei den Hausaufgaben dabei, bastelten mit und waren nicht sehr streng. Gut, eine Erzieherin war nicht so der Hit. Sie schimpfte schneller als man es für gerecht empfand. Ich weiß ihren Namen nicht mehr. Schon älter als die anderen, schwarze Haare. Irgendwann war sie weg und ein männlicher Erzieher nahm ihren Platz ein. So um die 50 Jahre, schätzte ich. Anfangs waren wir alle sehr skeptisch. Ein Mann! Na dem könnte man bestimmt nicht auf der Nase herum tanzen, der wird streng sein und absolut nichts durchgehen lassen. Aber diese Bedenken waren sehr schnell weg. Er hatte offenbar etwas mit Architektur am Hut. Jedenfalls fing er an aus Pappe eine Burg zu bauen und erklärte das als "unser Projekt". Es war erstaunlich, wie detailgenau er das konnte. Die Burg sah wirklich aus wie ein gekauftes Modell für eine Eisenbahn Landschaft. Total professionell. Dabei war alles nur aus Pappe, Watte, Buntstift und sonstiges Kleinzeug. Also wir fanden den Erzieher super.


Autor: nokiland


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Teil 1: Ein Leben im Kinderheim Machern
Teil 2: Erziehung statt Um-Erziehung
Teil 3: Begabungen und persönliche Entwicklung wurde gefördert
Teil 4: Schulunterricht in einem echten Schloss
Teil 5: Frust und kleine Freuden in Machern
Teil 6: Integration der Heimkinder in den Schulalltag
Teil 7: Die Kinderheime in der DDR waren keine Straflager für Schüler
Teil 8: Das Kinderheim in Machern nach der Wende
Teil 9: Das ganz persönliche Wort zum Sonntag